Mit diesem Text starten wir unsere in unregelmäßiger Reihenfolge erscheinende Serie „Meine Lieblings-Uhr“. Leser erzählen, welcher Zeitmesser ihnen aus welchem Grund besonders ans Herz gewachsen ist. Den ersten Beitrag hat Irmgard Brückner, Geburtsjahr 1935, verfasst. Er stellt ein Stück Zeitgeschichte dar. Wir freuen uns auf Ihre Beiträge und Fotos, die wir an dieser Stelle gern veröffentlichen.

Meine Lieblingsuhr ist fast 100 Jahre alt. Sie gehörte einst meiner Mutter Apollonia und ist weit mehr als nur ein Zeitmesser. Sie ist eine Zeugin der Zeitgeschichte und überstand die dunkelsten Stunden in Deutschland unbeschädigt.


Apollonia erhielt diese Uhr aus 14karätigem Gold und elastischem Armband Anfang der 1920er Jahre von ihrem späteren Ehemann August als Verlobungsgeschenk. Wie damals üblich, ohne Signatur auf dem Zifferblatt. Daher ist mir der Hersteller dieser eleganten Damenuhr bis heute nicht bekannt.

Als meine Mutter diese Uhr bekam, war der Erste Weltkrieg gerade einmal sechs Jahre vorüber. Die Menschen hofften auf glücklichere Zeiten. Doch schon 15 Jahre später begann das Inferno des Zweiten Weltkriegs. In den Jahren zuvor war die goldene Uhr eine zuverlässige Begleiterin meiner Mutter gewesen. Sie trug sie mit Stolz und großer Vorsicht, um sie ja nicht zu beschädigen.

Meine Mutter, meine Schwester und ich lebten damals in einem Stadtteil von Mainz; mein Vater war im Krieg. Im September 1944 brach dann die Apokalypse über große Teile unserer Stadt herein. In der Nähe unseres Hauses hatten deutsche Truppen auf ihrem Rückzug Station gemacht. Sie versuchten, ihre Panzer unter den Bäumen der Allee gegenüber von unserem Haus zu verstecken, doch das war amerikanischen und britischen Aufklärungsflugzeugen natürlich nicht verborgen geblieben. Anfang September – es war gegen Mittag – heulten die Alarmsirenen.

Viele ahnten, was nun folgen würde. Die Menschen rannten um ihr Leben. Unsere Wohngegend wurde fast eine Stunde massiv bombardiert. Meine Mutter und ich saßen in dem völlig überfüllten Luftschutzraum – einem ehemaligen Brauerei-Keller. Meine Schwester half zur gleichen Zeit in einem Industriebetrieb einige Kilometer entfernt bei Aufräumungsarbeiten und verfolgte mit Entsetzen, wie unser Stadtteil in Flammen aufging. Ich erinnere mich, wie die Menschen im Luftschutzraum schrien und um ihr Leben beteten.

Als wir später den Luftschutzraum fluchtartig verließen, bot sich uns ein Bild des Grauens: ein Inferno aus Flammen und Rauch. Unser Haus brannte lichterloh. Wir rannten zum Rhein, wo sich die Menschen in Sicherheit brachten und wo wir später zu unserer unendlichen Erleichterung auch meine Schwester trafen.

In diesem Moment fiel mein Blick auf das linke Handgelenk meiner Mutter: Sie hatte die ganze Zeit über ihre goldene Uhr getragen. Der Zeitmesser hatte dieses Inferno ohne Schaden überstanden. Er zeigte 15. 13 Uhr. Ein paar Monate später war der Zweite Weltkrieg zu Ende – und die Stadt Mainz zu 80 Prozent zerstört.


Meine Mutter ist im Jahr 1984 gestorben. Ich erbte ihre so geschätzte Uhr. Vor wenigen Jahren ließ ich den Zeitmesser von einem Uhrmacher überholen. Er läuft seither wieder einwandfrei – und daran, so hoffe ich, wird sich bis zu ihrem 100. „Geburtstag“ nichts ändern.

Bilder: Brückner